Berufsverband Akademischer PsychotherapeutInnen e.V.

Rotkäppchen, wie geht es Dir?


Buchcover: Rotkäppchen, wie geht es dir?

Ich möchte Ihnen/Euch das Bilderbuch von Claudia Gliemann, „Rotkäppchen, wie geht es Dir?“, ans Herz legen. Ich habe es vor einigen Wochen entdeckt und seither mehrfach in Therapien mit Erwachsenen verwendet, ausgewählte Abschnitte daraus vorgelesen oder erzählt, und gemeinsam die wunderschönen einfühlsamen Bilder von Regina Lukk-Toompere angeschaut.

Ich habe das Buch mit Patientinnen durchgeblättert und mit ihnen gesehen, wie Traumatisierung wirken kann und wie sich das Wunder von Heilung vollziehen kann, wenn die Zeit dafür da ist, wenn der Ort und die Situation sicher genug sind, wenn da jemand ist, zu dem langsam Vertrauen wachsen kann und der ein tiefes Wissen darüber hat, wie Heilung möglich ist – und was es alles dafür braucht, wie zum Beispiel das Vertrauen, dass es einen „richtigen“ Zeitpunkt geben wird, oder das Wissen um eine gute Dosierung und um die Zeit, die für die Integration von Erfahrungsschritten notwendig ist, und eben auch das Entwickeln von Freude, Spiel und Ressourcen.

All dies scheint der Bär in „Rotkäppchen, wie geht es Dir?“ zu wissen – und wie das geht, überträgt sich in feinen Bildern und eben genau richtigen Worten auf Leser und Leserin, auf Kinder und Erwachsene.

Doch der Reihe nach: „Rotkäppchen, wie geht es Dir?“ handelt natürlich von Rotkäppchen, einem kleinen Mädchen, das zumindest ein Mal in ihrem Leben (also die Sache mit der Großmutter und dem bösen Wolf) mächtig traumatisiert wurde. Immerhin hat Rotkäppchen das überstanden und der Wolf ist bekanntlich mit den ganzen Wackersteinen im Bauch in den Brunnen geplumpst. Rotkäppchen geht dann wohl von da aus weiter durch die Welt und hat – wie das wohl für alle, und besonders für traumatisierte, Menschen so ist – Sehnsucht danach, nicht mehr allein zu sein, Sehnsucht nach guter Beziehung. Da begegnet ihm der Fuchs. Er schleicht sich ein in ihr Herz. Es braucht lange Zeit, bis dem Rotkäppchen die miesen Absichten des Fuchses deutlich werden. Er hat es auf die goldenen Haare abgesehen, die das Rotkäppchen unter ihrer Kappe trägt. Diese Erkenntnis und der Bruch der Beziehung zum vermeintlichen Freund bricht ihr fast das Herz. Alles, was vorher noch gut kompensiert werden konnte, bricht zusammen und das Rotkäppchen erfriert fast im Schnee.

Da taucht der Bär auf. Bei seiner freundlichen hilfsbereiten Annäherung schlägt sie wild um sich – wie  traumatisierte Menschen das sinnvollerweise immer wieder tun. Der Bär begreift. Er begreift auch, dass seine Einladung, in seine Höhle zu kommen, damit sie nicht erfriert, fehl am Platz ist. Er baut eine Hütte um sie herum und für sich selbst eine Bank vor der Hütte. Er versorgt sie mit Essen und erzählt ihr Geschichten. Als Rotkäppchen das erste Mal aus der Hütte herausschaut, sind ihre Haare nachgewachsen.

So geht die Zeit ins Land und Rotkäppchen beginnt, die Welt um sich herum zu erkunden, Reh, Eichhörnchen, Schlüsselblumen, und Vertrauen wachsen zu lassen. Irgendwann findet sie das leere Haus der Großmutter, das ihr seltsam vertraut vorkommt, ohne dass sie sich erinnern kann. Irgendwann nimmt sie den Bären mit dorthin. Irgendwann findet sie den Korb mit vergessenen Schätzen und schmerzhaften Erinnerungen. Irgendwann packt sie einzelne Teile und Bilder aus, bekommt Gefühlsausbrüche, verkriecht sich, zerdeppert das wunderbare Porzellangeschirr, auf dem der Bär ihr jeden Tag zu essen und zu trinken bringt. Für das alles ist Zeit.

Bevor Rotkäppchen sich vom Bären verabschiedet und ihren Weg durchs Leben und weiter-Wachsen ohne ihn fortsetzen wird, tauchen einige andere wohlbekannte Gestalten auf, Aschenputtel, Schneewittchen, Dornröschen, Hänsel und Gretel und Rapunzel. Alle haben einiges durchgemacht und werden von Rotkäppchen beschenkt mit Essen, Trinken und Geschichten-Erzählen. Sie haben Teil an der Weitergabe von Heilung – und Rotkäppchen ist nicht allein.

 „Rotkäppchen, wie geht es Dir?“ ist vielleicht auch deshalb so gut geeignet für die Arbeit mit Patientinnen und Patienten, weil es gar nicht als therapeutisches Buch geschrieben ist. Es ist einfach ein sehr besonderes, wunderschönes, einfühlsames Bilderbuch. Ich habe es drei meiner Enkelinnen vorgelesen und die Älteste sagte: „Oma, ich mag eigentlich keine Märchen. Aber das ist richtig gut.“

Übrigens gefällt mir das Bilderbuch „Papas Seele hat Schnupfen“ von Claudia Gliemann ebenso gut wie „Rotkäppchen“ und ich bin gespannt auf ihr neues Bilderbuch „Ein Schlüssel für Mama“, das Ende August 2021 erscheinen wird.

Dorothea Rahm